Perspektivwechsel

Aus der Ferne sieht man keine Einzelheiten – aber das Ganze

Seit fast dreißig Jahren lebe ich in Deutschland. Für Politik, Gesellschaft und Wirtschaft habe ich mich schon immer interessiert und mich oft, sehr oft, über Vieles hier aufgeregt. Wahrscheinlich ist das auch normal, dass man eher die negativen Seiten wahrnimmt. Das Positive ist irgendwie selbstverständlich. Obwohl ich aus einem Land komme, wo man für freie Medien, unabhängige Justiz, demokratische Wahlen, freie Meinungsäußerung sehr lange gekämpft hat und ich die letzten Jahre dieses Kampfes sehr bewusst erlebt habe, wurden diese Freiheiten für mich hier sehr schnell  selbstverständlich. Genauso normal wurde für mich, dass man fair miteinander umgeht, dass ein Hauen und Stechen zu nichts führt, dabei gibt es nur Verlierer. Sachverhalte analysieren, Diskutiere, Kompromisse schließen – das ist mir ins Blut übergegangen, ich weiß noch nicht mal wann…. das  war die Wirklichkeit. Das war das Leben und ich mittendrin.

Seit einem Jahr beobachte ich verstärkt und sehr intensiv, was in Polen passiert und bin immer mehr erschrocken, entsetzt, erschüttert, manchmal sogar sprachlos. Zuerst bezog sich das ausschließlich auf das Tun der Regierung. Mittlerweile schließt das auch die polnische Gesellschaft mit ein.

Die heutige Regierung in Polen zerstört Stück für Stück alles was in den letzten fünfundzwanzig Jahren erkämpft und aufgebaut wurde. Das macht sie in einem Tempo und mit einer Entschlossenheit, die mir Angst machen. Im April letzten Jahres habe ich geschrieben: “Ich bin mir sicher, dass die Polen wieder wach werden, auf den europäischen Weg zurückkehren und diese Episode als eine Lektion in Sachen Demokratie in die Geschichtsbücher reinschreiben. Ich weiß nicht, woher diese Überzeugung kommt, vielleicht weil ich es mir nicht vorstellen kann, dass ein Volk, welches sich seine Freiheit selbst erkämpft hat, diese auch wieder verlieren will, oder einfach, weil ich eine realistische Optimistin bin” – mittlerweile bin ich mir da nicht mehr so sicher. Der Grund dafür ist noch nicht mal das, was die Regierung macht Der Grund dafür ist die polnische Gesellschaft. Eine Gesellschaft, die Kritik akzeptiert aber nur solange die Gegenseite kritisiert wird. Eine Gesellschaft, die Schuldige statt Lösungen sucht. Eine Gesellschaft, in der Eigennutz weit wichtiger ist als Gemeinwohl. Eine Gesellschaft in der ständig geteilt wird in “wir” und in “die da”. Das sind eigentlich Merkmale für die radikalen Ränder einer Gesellschaft, die es überall gibt. In Polen besteht die Tragik darin, dass die Teile der Gesellschaft, die sich für freiheitsliebend, demokratisch, weltoffen und Europa bejahend bezeichnen, genauso engstirnig sind – auf die eine oder andere Weise.

Marzanna Die

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